Donnerstag, 21. Dezember 2023

Die Ballade vom Panoptikum

 

Am Panoptikum, wo die Verdorbenen
sich drängen an Läden und Fenstern,
Da sieht man die großen Verstorbenen
Am hell-lichten Tage gespenstern!
Der Mann ohne Kopf und ein Kopf ohne Kind,
Die Riesen- und Zwerg-Raritäten
Und Zieten mit dem Zopf und Moritz von Schwind
Und die anderen Celebritäten,
Bestaunt vom ganzen Publikum!
Und ihre Seelen gehen um
Und finden keine Ruh da!
Hallelujah! Hallelujah!
So harren sie des jüngsten Tags
Aus Wachs
    pax vobiscum!
Im Berliner Passage-Panoptikum!
        Im Berliner Passage-Panoptikum!

Die Gestorbenen kommen ins Paradies
Und Frommen nach Weißensee raus!
Im Panoptikum halten nur die Genies
Den ewig unsterblichen Kehraus!
Die Anarchisten und die Herr'n aus dem Tron,
Das Volk der Denker und Dichter
Für 30 Pfennig im Grammophon
Weiß-sagen sie aus dem Trichter!
Bestaunt vom ganzen Publikum!
Und ihre Seelen gehen um
Und finden keine Ruh da!
Hallelujah! Hallelujah!
So harren sie des jüngsten Tags
Aus Wachs
    pax vobiscum!
Im Berliner Passage-Panoptikum!
        Im Berliner Passage-Panoptikum!

Am Panoptikum brüllt man die neusten Arznein,
An denen wir alle genesen!
Und Tausende stürmen zu den Partein
Gräubig an Wunderprothesen!
Die Volksbeglückung kriegt einen Knax
Mitten im Katzenjammer,
Und wir stehn alle eines Tags
In einer Schreckenskammer,
Bestaunt vom ganzen Publikum
Und unsre Seelen gehen da um
Und finden keine Ruh da!
Hallelujah! Hallelujah!
So harren wir des jüngsten Tags
Aus Wachs
    pax vobiscum!
Im Berliner Passage-Panoptikum!
        Im Berliner Passage-Panopticum!"

Walter Mehring im Programmheft des Kabaretts "Schall und Rauch" vom Februar 1921

Mittwoch, 17. November 2021

"Sie standen in schrecklichem Schweigen da ..."


Sammlung Nagel

Das 31. Kapitel der 1937 als Teil der Sammlung "Das Sanatorium zur Sanduhr" erschienenen Kurzgeschichte "Frühling" des Schriftstellers Bruno Schulz hat den Besuch in einem großen reisenden  Panoptikums zum Thema, das "sein Zelt auf dem Platz der heiligen Dreifaltigkeit aufschlug". Besonders beeindruckend ist u.a. die literarische Verarbeitung mechanisch bewegter Wachsfiguren. 
Es scheint denkbar, dass in der folgenden Passage Erinnerungen eines Besuchs des 15jährigen Bruno Schulz in Heinrich Trabers Panoptikum widerhallen, das 1913 in seiner galizischen Heimatstadt Drohobytsch gastierte.*

"Das Panoptikum war schon hell erleuchtet. In der scheuen und eiligen Dämmerung drängten sich die Menschen als dunkle Silhouetten, mit Regenschirmen bedeckt, im fahlen Licht des untergehenden Tages in dem beleuchteten Vorraum des Zeltes, wo sie achtungsvoll vor einer dekolletierten, bunten Dame mit blitzenden Kleinodien und einer Goldplombe in den Zähnen ihre Gebühr entrichteten - eine lebende Büste, geschnürt und bemalt, unten dagegen auf unbegreifliche Weise im Schatten samtener Vorhänge verschwindend.
Wir betraten durch die gelüftete Portiere einen hellerleuchteten Raum. Er war schon ziemlich bevölkert. Gruppen in regennassen Mänteln und mit aufgestellten Kragen schoben sich schweigend von Platz zu Platz und blieben endlich in gedrängten Halbkreisen stehen. Mitten unter ihnen bemerkte ich mühelos jene, die nur mehr scheinbar in diese Welt gehörten, in Wirklichkeit aber schon ein getrenntes, repräsentatives und einbalsamiertes Leben auf dem Piedestal führten, ein zur Schau gestelltes und feiertägliches Leben. Sie standen in schrecklichem Schweigen d, mit prächtigen, für sie nach Maß geschneiderten Gehröcken, Cuts und Jacken aus gutem Tuch bekleidet, sehr blass, mit den Fieberröten ihrer letzten Krankheiten, an denen sie gestorben waren, und ließen die Augen blitzen. In ihren Köpfen war schon längst kein Gedanke mehr, nur die Gewohnheit, sich von allen Seiten zu zeigen, die Gewohnheit zur Repräsentation ihres leeren Daseins, das sie mit letzter Anstrengung aufrechthielt. Sie sollten schon längst in kühle Leintücher gehüllt, mit geschlossenen Augen im Bett liegen und ihren Löffel Medizin eingenommen haben. Es war Unfug, sie noch so spät in der Nacht von ihren engen Postamenten und Sesseln hocken zu lassen, auf denen sie in ihrem engen lackierten Schuhwerk steif dasaßen, meilenweit von ihrer alten Existenz entfernt, mit blitzenden Augen und völlig erinnerungslos. 
Wie einem Erhängten die Zunge, so hing - schon tot - jedem sein letzter Schrei aus dem Mund, seit sie das Irrenhaus verlassen hatten, wo sie eine gewisse Zeit wie im Fegefeuer verbrachten. da sie als Wahnsinnige galten, ehe sie die endgültige Schwelle überschritten. Ja, es waren tatsächlich keine authentischen Dreyfuse, Edisone und Lucchenis, es waren vielleicht tatsächlich Wahnsinnige, gerade in dem Augenblick in flagranti erwischt, da diese blendende fixe Idee in ihnen Wohnung nahm, im gleichen Moment, da ihr Wahnsinn nach einer Weile lautere Wahrheit war und - kunstvoll herauspräpariert - das Heft ihrer neuen Existenz wurde, zur Gänze auf diese Karte gesetzt und seitdem unverändert. Sie hatten schon seit damals diesen einen Gedanken im Kopf wie ein Ausrufezeichen und standen gleich diesem auf dem Kopf , auf einem Bein wie im Flug, mitten in der Bewegung aufgehalten. 
Ich suchte ihn mit den Augen in dieser Schar und ging unruhig von Gruppe zu Gruppe. Endlich fand ich ihn; keineswegs in der glänzenden Uniform eines Admirals des levantinischen Geschwaders, in der er auf dem Flaggschiff 'Le Cid' von Toulon in jenem Jahr ausgefahren war, als er den mexikanischen Thron besteigen wollte; auch nicht im grünen Frack eines Generals der Kavallerie, den er so gern in seinen letzten Tagen trug. Er war vielmehr mit einem gewöhnlichen Rock mit langen, faltenreichen Schößen und hellen langen Hosen bekleidet, ein hoher Kragen mit breiter Halsbinde stützte sein Kinn. Ehrfürchtig und erregt blieben wir beide - ich und Rudolf - vor ihm mitten in einer Gruppe von Menschen stehen, die ihn nach allen Seiten drehte. Da fuhr ich plötzlich bis ins Mark getroffen zusammen. Drei Schritte vor uns in der ersten Reihe der Zuschauer stand in einem weißen Kleidchen Bianka mit ihrer Gouvernante. Sie stand uns schaute. Ihr Gesichtlein war in den letzten Tagen blass und elend geworden, und ihre umringten und schattenvollen Augen schauten betrübt bis in den Tod. 
So stand sie regungslos, die verschlungenen Händchen in den Falten des Kleidchens versteckt, und blickte unter ihren ernsten Brauen mit bekümmerten Augen hervor. Das Herz presste sich mir bei diesem Anblick zusammen. Unwillkürlich folgte ich mit meinen Augen ihren todtraurigen Blicken nach - und was sah ich? Sein Antlitz bewegte wie soeben aus dem Schlaf erwacht, die Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln, die Augen funkelten und begannen sich in den Höhlen zu drehen, und die ordensblitzende Brust wölbte und senkte sich atmend. Es war kein Wunder, sondern ein gewöhnlicher mechanischer Trick. Entsprechend aufgezogen hielt der Erzherzog nach mechanischen Prinzipien kunstvoll und zeremoniell Cercle, wie er es zu Lebzeiten gewohnt war. Er wandte den Blick der Reihe nach den Anwesenden zu und ließ ihn ein Weilchen auf jedem ruhen. 
So begegneten sich in einem bestimmten Moment ihre Blicke. Er fuhr zusammen, zögerte, schluckte den Speichel, als wollte er etwas sagen, doch nach einem Augenblick schon lief er - gehorsam seinem Mechanismus - mit dem Blick weiter und ließ ihn mit dem gleichen ermutigenden, versprechenden und strahlenden Lächeln über die anderen gleiten. Hatte er Biankas Anwesenheit zur Kenntnis genommen, war sie in sein Herz vorgedrungen? Wer konnte es wissen? Er war doch nicht einmal der vollen Bedeutung dieses Wortes er selber, sondern viel eher sein eigener entfernter Doppelgänger in einem sehr reduzierten und hochgradig entkräfteten Zustand. Doch vom Standpunkt der Tatsachen aus musste angenommen werden, dass er dennoch irgendwie sein nächster Agnat war, vielleicht sogar er selber in dem Grad, wie es bei diesem Stand der Dinge eben gerade noch möglich war, so viele Jahre nach seinem Tod. Es war bestimmt schwierig, in dieser wächsernen Auferstehung von den Toten gründlich in sich selber einzudringen. Unwillkürlich musste sich bei dieser Gelegenheit etwas Neues und Drohendes in sein Inneres einschleichen, musste sich etwas Fremdes aus dem Wahn dieses genialen Irren beimischen, das ihn unbezweifelbar in seiner Megalomanie bestärkte und Bianka mit Schrecken und Bestürzung erfüllen musste. Zieht sich doch bereits ein Schwerkranker zurück und entfernt sich von dem ehemals Gewesenen - um wieviel mehr ein so ungeziemend von den Toten Auferstandener! Wie verhielt er sich zum Beispiel nur jetzt gegen sein eigenes Blut? Voll künstlicher Fröhlichkeit und Bravour spielte er seine kaiserliche Narrenkomödie, lächelnd und glänzend. Oder musste er sich so arg verstellen oder fürchtete er so arg die Aufseher, die ihn von überall beobachteten, den im gleichen Wachsfigurenspital zur Schau gestellten, wo sie alle unter der Drohung der Spitalzucht lebten. Oder musste der mühsam aus irgendwessen Irrsinn Herausdestillierte, chemisch Reine, Ausgeheilte und schließlich dem Tode Entronnene nicht lange halten, weil man ihn wieder in die Auflösung und in das Chaos zurückstoßen konnte?
Als mein Blick von neuem Bianka suchte, gewahrte ich, dass sie ihr Gesicht im Taschentuch barg. Die Gouvernante drehte sie an der Schulter weg, wobei sie leer mit ihren emaillierten Augen blitzte. Ich konnte Biankas Schmerz nicht mehr länger nit ansehen, ich spürte, dass mich ein Weinkrampf packte, und zupfte daher Rudolf am Ärmel. Wir schritten dem Ausgang zu.
Hinter unserem Rücken schickte der geschminkte Vorfahre, dieser Großvater in der Blüte der Jahre, weiterhin seine strahlenden Monarchengrüße in die Runde, ja hob sogar in übertriebenem Eifer die Hand und warf uns beinahe Kusshändchen zu in dieser regungslosen Stille, beim Zischen der Azethylenlampen und inmitten des leisen Gemurmels des Regens auf den Zeltbahnen und stellte sich mit letzten Kräften auf die Zehenspitzen, obwohl er sterbenskrank war und wie alle seine Kollegen vor Todesangst zitterte." (Bruno Schulz: Die Zimtläden und alle anderen Erzählungen, dt. München 1966)

* Entsprechende Hinweise verdanke ich Balbina Tarnowska und Jan Zielinski aus Danzig.

Montag, 13. September 2021

Nur 'raus hier!


 "La mort de Marat avec la baignoire authentique"

Die Schauspielerin Olga Heydecker-Langer beschreibt in ihrer 1927 bei Georg Müller in München  erschienenen Autobiografie "Lebensreise im Komödiantenwagen" einen Besuch in einem ungenannten Pariser Panoptikum um die Jahrhundertwende einmal mehr als geradezu traumatisches Erlebnis. Es wird sich um Museum Grévin gehandelt haben, das sich schon bald nach seiner Eröffnung im Jahr 1882 zu einer Attraktion für Einheimische und Besucher der Stadt gleichermaßen entwickelte.

"Nur zögernd ging in ran an diese Pracht. Wachsfiguren waren mir immer schauderhaft. Das müsse ich aber gesehen haben; denn das sei lehrreich - und alles historisch. (...)
Jawohl, da stand die verbürgte Badewanne, in der Marat ermordet wurde, und daneben - in Wachs -  Charlotte Corday, mit flammender Miene.
Da war das ganze Opernballett mit wächsernen Beinen.
Da stand Marie Antoinette mit dem Dauphin und biß sich auf die wachsbleichen Lippen, weil ihr die abgeschlagenen Köpfe ihrer Standesgenossen serviert wurden. Die Kette, die sie um den Nacken trug, soll das berühmte Halsband gewesen sein. Mir wurde schon langsam übel, (...). Immer tiefer stiegen wir hinunter; denn dort gingen die Treppen nicht hinauf, sondern hinab. Überall - überall Wachsfiguren! Kaiser, Könige, Hochstapler, Kurtisanen, Einbrecher, Lustmörder - ja - das war der Clou, den ich nicht versäumen durfte - die Laufbahn eines Lustmörders, von der Wiege bis zum - Schafott!
Mein Lebtag habe ich noch nicht so viel Laster auf einem Fleck beisammen gesehen."
Als sie schließlich "das Fallbeil blinken" sah, "da wurde es mir zu bunt und ich lief -- lief -- 
Vorbei an Iwan dem Schrecklichen, vorbei an Kleopatra mit der Natter am Busen, vorbei an dem Weib, das gerade ihr Kind ertränkt - - Licht -- Luft -- Sonnenschein!" (S. 202f)

Abbildungen aus einem Souvenirbändchen des Musée Grevin, um 1890
(Sammlung Nagel)

Freitag, 17. August 2012

Des sittlichen Anstandes halber verborgen


"Durchschnitt durch das weibliche Becken", Abbildung aus dem 
Führer eines "Extrakabinetts" um 1900, Sammlung Nagel

Mitunter kann auch erzählende Literatur zu wirklichkeitsnahen und aufschlussreichen Einblicken in ein Sujet verhelfen. So gibt Karl von Holtei in seinem 1851 erschienenen Roman „Die Vagabunden“ anerkanntermaßen ein sehr realistisches Bild von den verschiedenen Schaustellungen reisender Unterhaltungskünstler um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Es ist auffällig, dass die typischen Schaubudenattraktionen, die für das letzte Drittel dieses Jahrhunderts in großer Zahl bezeugt sind, zum größten Teil auch schon in der ersten Jahrhunderthälfte existierten. In Bezug auf die gesonderten Abteilungen der Wachsfigurenkabinette, die i.d.R. zu dieser Zeit noch nicht auf Werbezetteln und in Anzeigen erwähnt werden, bilden literarische Zeugnisse wie Gottfried Kellers oben zitiertes Tagebuch oder Holteis Roman sogar zentrale Quellentexte:

Im 41. Kapitel geleitete das Geschick Anton bzw. Antoine, der Held des Romans, „an eine große, mit besonderer Sorgfalt konstruierte Bude, deren Anschlagzettel das große Wachsfigurenkabinett des Herrn Blämert verkündeten. An der geöffneten, reich verzierten Kasse, vor der ein wächserner Gardist schulterte, saß eine junge Dame (…). Sie lud ihn durch eine graziöse Bewegung des Kopfes ein, den Schauplatz zu besuchen und deutete, (…) mit der Hand auf den Vorhang, durch den er sich zu schieben habe. (…) 
Ich will mich gar nicht hinter meiner Kinderdummheit und deren törichte Furchtsamkeit verstecken; ich will vielmehr treuherzig eingestehen, daß ich mich auch noch als überreifer, vielerfahrener Mann fürchterlich gefürchtet habe, wenn ich mich zufällig (…) allein vor einer solchen Parade von Wachsfiguren befand. Fast kenne ich nichts Schauerlicheres, als eine Gesellschaft ausgeputzter Kadaver,; ich behaupte auch, daß es, ich weiß nicht warum, wie in einer Totenkammer riecht! Deshalb bin ich auch nicht berechtigt, meinem Helden sein Entsetzen übel zu nehmen. Es findet sich eine Zeile in seinem Tagebuche (…), - worin er ausspricht, daß er sich unbedenklich durch die Flucht gerettet haben würde, hätte er nicht die schöne, stumme Blondine an der Kasse gewusst und ihren Hohn gefürchtet. Er stählte sich folglich mit dem Mute der Furcht, welcher, obgleich nichts anderes als die Furcht vor der Furcht am gehörigen Orte Wunder zu wirken vermag. Er blieb; rückte den hohen und höchsten Herrschaften, die, mit berüchtigten Räubern, Dichtern, Delinquenten, Gelehrten, Kartenspielern, Trinkern, Giftmischern abwechselnd, hier zu Gruppen vereinigt, dort in ungeselliger Abgeschlossenheit zu sehen waren, zuversichtlich auf den Leib und warf ihnen drohende Blicke zu, forderte sie auf, ihn zu beleidigen! (…) Nichtsdestoweniger gestand er sich’s aber: ich will lieber mit Tigern und Leoparden zu schaffen haben, die doch mindestens durch ihr Gebrüll aufrichtig bezeugen, wes Geistes sie sind: lieber mit jenen Vierfüßlern, als mit diesen zweibeinigen, sprachlosen, hochzuverehrenden Herrschaften.                                                                                                         
Eine Seitentür öffnete sich. Zwei Herrschaften traten heraus, zum Hauptausgange geleitet von einem dritten, dem Schöpfer dieser kalten Welt, (…)                               
Der Holländer, fertig Französisch redend und lebendiger, als die meisten seiner Landsleute, begann ein recht interessantes Gespräch, das freilich zunächst den von ihm ausgearbeiteten Köpfen und Figuren galt, ihn dabei aber doch, durch nahe liegenden Bezug auf dieselben, wie einen künstlerisch und nicht unwissenschaftlich ausgebildeten Mann erscheinen ließ. ‚Was Sie hier sehen’, sagte er, ‚ist nur für die Menge berechnet, denn ich muß mich ernähren. Andere, bedeutendere Arbeiten verwahre ich in jenem Seitenkabinett, aus dem ich soeben mit den beiden Herrn trat. Darin verberge ich – denn verborgen müssen sie bleiben des lieben sittlichen Anstandes halber – die Erzeugnisse meiner Mußestunden. Nachbildungen teils verschiedener Naturmysterien, wie dieselben von Damen, Kindern – überhaupt öffentlich nicht ausgestellt werden dürfen. Den Ausdruck des Menschlichen zu treffen, insofern er dem Antlitz geistige Weihe gibt, gelingt Künstlern meiner Gattung nur unvollkommen. Wir wollen plastische Bildner sein und Maler, beides zugleich; deshalb sind wir streng genommen keines von beiden. Ich sehe das deutlich ein, bin darum auch unzufrieden mit dem, was hier prunkt und prangt. Aber meine kleinen Arbeiten da drin, in der heimlichen Kammer, darf ich vollkommen nennen in ihrer Weise. Sie maßen sich nicht an, Leidenschaften, Gefühle, Charaktere auszudrücken, sie bedürfen keiner Augen, die Feuer, keiner Mienen, die inneres Leben verlangen. Was durch Fleiß und Geschicklichkeit erreichbar ist, genügt für diese Arbeiten. Für den Augenblick befinde ich mich mit Vorzeigung derselben in peinlicher Verlegenheit. Ich kann dafür, als für eine nur im Stillen gegebene und geduldete Begünstigung, natürlich auch nur einen zuverlässigen, anständigen Diener gebrauchen, und einen solchen gelang es mir nicht aufzufinden, seitdem der vorige, den ich aus Holland mitnahm, nach unserer Heimat zurückgekehrt ist.’ “ (Ausgabe Halle/S. 1911, S.287ff)

Antoine findet Anstellung in Blämerts Wachsfigurenkabinett, genauer im erwähnten „Seitenkabinett“ desselben: 
„Das ist wahr, einzurichten versteht mein Herr seine Sachen. Unsere Bude sieht aus wie ein Schmuckkästchen von innen und außen. Mein heimliches Kabinett ist so niedlich, daß ich es fast zu schön finde für die unschönen Gegenstände, die es zum Teil einschließt. Herr Blämert ist zwar sehr stolz auf dieselben und gewissermaßen kann er es wohl sein; alle Kenner loben die vollendete Ausführung. Aber bei all dem kann ich die Scham noch nicht überwinden, daß ich so viele Sachen enthüllen muß, die besser verschleiert bleiben. 
Was es doch für Weiber gibt! Gestern bestanden ihrer zwei darauf, mit einer Herrengesellschaft zugleich die verbotenen Waren anzusehen. Na, mir konnte es recht sein! Aber wenn meine Geliebte oder meine Frau solches Äpfelgelüste zeigte, - ich gäbe ihr, glaub’ ich, den Laufpaß! 
Da lobe ich mir Frau Blämert. Die macht schon linksum, wenn sie nur in die Nähe der Tür gerät. Fast komme ich auf die Vermutung, sie wolle mir bloß deshalb übel, weil sie in mir den Hüter jener anstößigen Kleinodien erblickt.                                                           
Die Trinkgelder fließen übrigens reichlich ein.“ (ebenda, S.294f)

Sonntag, 19. Dezember 2010

Der Amtmann als Räuber

l
Filmplakat 1960er Jahre

Die Physiognomien der Verbrecher in den reisenden Wachsfigurenkabinetten werden in vielen Fällen ebenso wenig den Originalen entsprochen haben wie ihre Bekleidung oder die ausgestellten Tatwerkzeuge. Machte ein Betrüger oder Mörder Schlagzeilen, so brachte die zeitnahe Präsentation seiner wächsernen Kopie einen großen Werbeeffekt. Die Schausteller waren daher stets um die Aktualität ihrer "Verbrechergalerien" bemüht, wozu oftmals einfach eine vorhandene Figur entsprechend ausstaffiert und gekennzeichnet wurde.
Auch die großen, in die Geschichte eingegangenen Schurken vergangener Tage entsprachen mitunter nicht ihren Vorbildern - ein Umstand, den Ludwig Tieck  zum Anlass einer überaus humorvollen Episode in seiner Novelle "Der Jahrmarkt" von 1832 nahm:

" (...) Dieser Gang führte sie wieder aus der Stadt in die Promenaden, und zugleich zu einer Reihe von großen hölzernen Gebäuden in welchen verschiedene Schau-Ausstellungen sich der Betrachtung boten.
Man las die verschiedenen lobpreisenden Zettel und Ankündigungen, und dem Amtmann schien ein großes berühmtes Kabinett von Wachsfiguren, in welchem viele bekannte tote und lebende Menschen ausgestellt waren, am anlockendsten.
Man bezahlte den Eintrittspreis. Die Thür ward geöffnet, und der Amtmann, welcher als der Vornehmste voran schritt, wandte sich an einen wohlgekleideten Herren, welcher gleich rechts stand, mit der Frage: ist es erlaubt, allenthalben ganz nahe hinzu zu treten? Die Pfarrerin und Rosine, die jetzt folgten, verneigten sich vor den schimmernden herausgeputzten Figuren demütig, und der Amtmann nahm es fast übel, daß der freundliche Herr ihn keiner Antwort würdigte, bis er inne ward, mit welchem er sich unterhielt, eben auch nichts Besseres, als eine wächserne Larve sei.
Da es noch früh am Tage war, fanden sie nur wenige andre Beschauer, und die beiden Familien vom Lande waren im Genuß um so heitrer und weniger befangen. Prinzessinnen Als man sich genug von den Potentaten und den Diamanten der Prinzessinen hatte blenden lassen, so nahm man auch von den Gelehrten und und Bürgerlichen in dieser Kunst-Ausstellung einige Kenntnis. Plötzlich eilte der Amtmann nach einem Winkel und deutete, daß seine Begleitung ihm folgen solle. Hier stand eine Figur in altfränkischen Galakleidern, in einem betreßten Rock, seidenen Strümpfen, mit Degen und dem Hut unter dem Arm, das breite, stark gefärbte Gesicht lächelnd und grinsend. Nun, sagte der Amtmann erfreut; kennen sie, Pastor, diesen Mann?
Nein, sagte dieser, und doch schwebt mir wie eine Erinnerung vor, als wenn ich diese Figur schon einmal sollte gesehen haben.
Ei! Ei! rief der Amtmann halb verdrüßlich; sehn Sie doch nur die Kleider an! Es werden jetzt fünf oder sechs Jahre sein, daß ein umfahrender Künstler auf meinem Amte einkehrte und auch an meinem Tische aß. Er suchte mich, weil ich ihn freundlich aufgenommen hatte, zu zeichnen, er kopierte und bossierte, färbte und künstelte, und hatte auch mit Wachs zu schaffen. Er ließ mir auch keine Ruhe, bis ich ihm mein ältestes Galakleid für einen mäßigen Preis verkaufte, wozu ich auch endlich mich bequemte, weil ich es, wie mir meine Gattin vorstellte, doch niemals wieder brauchen könne, indem die Mode zu veraltet sei. Nun hat dieser Mann, der wohl mit dem Kabinetthalter verwandt ist, meine Gestalt hier unter alle diese erlauchten und berühmten Menschen aus Dankbarkeit ausgestellt. Denn, sehn Sie nur etwas genauer hin, so werden Sie gewiß, wenn auch vielleicht nicht ganz täuschend ähnlich, meine Physiognomie erkennen.
Alle erkannten jetzt den Amtmann an seinen ehemaligen Kleidern, und Fritz war hocherfreut, seinen Papa in so einer würdigen Gesellschaft stehn zu sehn. Ja, rief Titus aus, Sie stehn hier zwischen Voltaire und Friedrich dem Großen, Sie haben sich Ihrer Nachbarschaft nicht zu schämen
Einige Mädchen, in Gesellschaft von jungen Leuten, waren auch näher getreten, und der Prediger ersuchte jetzt den bewanderten Titus, die Nummer in dem Verzeichnis nachzusehn, und ihnen vorzulesen, auf welche Art ihr würdiger Freund in dem gedruckten Blatt beschrieben würde. Titus las:
'Dieses geistreiche Gesicht mit dem seinen bedeutsamen Lächeln' -
Der Amtmann verbeugte sich errötend, indem er mit leiser Stimme sagte: es muß mich beschämen, daß diese freundliche Gesinnung nun so allgemein aller Welt mitgeteilt wird. Indessen ist es schmeichelhaft, seinen Mitbürgern und wohlwollenden Zeitgenossen auf diese Weise vorgeführt zu werden. Fahren Sie fort, Herr von Titus.
Titus las weiter: 'mit dieser Haltung, die ganz den vollendeten Weltmann verkündet, der immer nur in den vornehmsten Cirkeln gelebt hat, ' -
Man schmeichelt aber, warf der Amtmann ein, und übertreibt.
'in dessen Physiognomie, las Titus weiter, Menschenfreundlichkeit, Wohlwollen, Großmut und jede edle Tugend sich zu verkündigen scheint,' -
Ich weiß nicht, unterbrach der Amtmann wieder, das ganze Gesicht von Röte und Bescheidenheit übergossen,  wie ich nur, nach diesen Lobpreisungen, auf den Straßen werde wandeln können. Aber dir, mein Sohn Fritz, sei diese Begebenheit eine Aufmunterung, immerdar der Bahn der Tugend getreu zu bleiben. Du siehst, auch das verborgene Verdienst wird nicht verkannt, auch aus der stillen Einsamkeit wird es an das Licht des Tages gezogen, auch der schweigenden Tugend schlägt die Stunde der Anerkennung. Gib mir die Hand darauf, mein Sohn, daß du in meine Fußstapfen treten willst. - Fritz schüttelte des Vaters Rechte und machte fast eine Miene, als wenn er vor Rührung weinen wollte. - Weiter! befahl hierauf der Amtmann in einem barschen Tone, indem er sich gerade aufrecht stellte, und stolz seiner Copie ins grinsende Antlitz schaute. 
Titus aber fiel in einen seltsamen Husten, der gar nicht endigen wollte, sein Gesicht verzog sich gewaltsam, als wenn er zu ersticken fürchtete. Fritz klopfte dem Kämpfenden in den Rücken, um ihn zu erleichtern, und als der Krampf sich beruhigt hatte, las der Erschöpfte mit matter Stimme:
'Wer würde in dieser anmutigen Bildung jenen Bösewicht, den weltbekannten Cartouche, der ehemals in Paris  eine so große Rolle spielte, wieder erkennen? Der Künstler hat das Gesicht genau nach einem authentischen Gemälde gebildet, die Kleider sind ebenfalls dieselben, in welchen der Bösewicht die vornehmsten Gesellschaften zu besuchen pflegte" --
Es ist nicht möglich, den Zorn, Schreck, das Entsetzen des Amtmanns zu beschreiben, als er diesen Artikel vorlesen hörte. Nein, schrie er mit donnernder Stimme, hier ist mehr als kriminell, mehr als Hochverrat! Himmel und Erde! Das muß einem ehrbaren Mann, einem tugendhaften Staatsbürger begegnen! Schändlicher, als im imfamsten Pasquill ausgestellt zu werden! Das verdient mit dem Scheiterhaufen, mit dem Fluche der Mit- und Nachwelt bestraft zu werden!
Es waren indessen noch mehr Neugierige herein getreten, und alles drängte sich neugierig um die Gruppe, welche den deklamierenden Amtmann umgab. Die Besitzer des Kabinetts, als sie dies wilde Schreien hörten, stürzten ebenfalls herein, weil sie fürchteten, es sei einer ihrer Figuren ein Unglück zugestoßen. Alles fragte, drängte, schrie, man wollte den empörten Amtmann zu Gute sprechen, aber vergeblich. Man hatte genug zu tun, den Wütenden nur mit Gewalt von seinem Ebenbild zurück zu halten, welches er zertrümmern wollte. Die Eigentümer schickten nach der Wache, doch ehe diese noch anlangte, trat der Polizei-Präsident, welcher vorüber gehend das Lärmen vernommen hatte, in das Getümmel. 
Er ließ sich den Fall vortragen, nachdem es ihm gelungen war, den Amtmann einigermaßen zu beruhigen. Der Besitzer des Kunstwerkes erörterte dagegen: er habe schon vor zwei Jahren diese Figur, welche dem fremden Herrn so großen Anstoß erregt, von einem nicht unberühmten Wachskünstler eingekauft, welcher sie ihm unter dem Namen des berüchtigten Diebes und Spitzbuben Cartouche verhandelt habe. Er habe die Figur lieber als einen neueren Charakter gut oder böse ausstellen wollen, am liebsten als den Mörder Louvet, oder als den Demagogen Hunt, weil jede Zeit sich selbst doch immer am nächsten, und Cartoche so gut wie vergessen sei: nur Gewissenhaftigkeit und redliche Gesinnung habe ihn abgehalten, so als Wiedertäufer zu schalten, und es schmerze ihn, daß ein Kunstverwandter ihn so schmerzlich hintergangen habe. (...)"


Tieck, Ludwig: Werke in vier Bänden. Bd. III: Novellen. München 1985

Sonntag, 12. Juli 2009

Pst!


Fotografie von Jindrich Styrsky (Bildquelle: www.jedinak.cz) 


Das Berliner Passagepanoptikum in unmittelbarer Nachbarschaft von Castans Panoptikum stand immer im Schatten seines berühmten und älteren Konkurrenten, dessen bisherige Ausstellungsräume man gleich übernommen hatte, nachdem Castan zwecks Vergrößerung seiner Ausstellung in ein neues Gebäude in der Friedrichstraße umgezogen war. Obwohl das neue Unternehmen sehr von der bekannten Adresse profitierte und viele Berliner dort weiterhin Castans Etablissement wähnten, stellte sich der Erfolg erst ein, als die Betreiber verstärkt auf drastische und gruselige Effekte vor allem in der Schreckenskammer und im anatomischen Kabinett setzten. So konnte das Passagepanoptikum den einstigen Konkurrenten sogar noch um einige wenige Jahre überleben - und es erhielt am Ende durch Egon Erwin Kisch ein wunderbar ironisches, atmosphärisch-dichtes literarisches Denkmal:
"Geheimkabinett des anatomischen Museums
Das Schönste von Berlin ist die Linden-Passage.
Das Schönste von der Linden-Passage ist das Passagepanoptikum.
Das Schönste vom Passagepanoptikum ist das anatomische Museum.
Das Schönste vom anatomischen Museum ist das Extrakabinett.
Das Schönste vom Extrakabinett ist - pst!
Zur Führung des Beweises für die Richtigkeit oben angeschlagener viereinhalb Thesen sei vorerst die Tatsache hingeschrieben, dass es nirgends in Berlin solchen Mangel an Hast gibt wie in der Passage, solche Losgelöstheit vom Materialistischen wie in der subkutanen Verbindung zwischen der utilitaristischen Friedrichstraße und den repräsentativen Linden. Die Straße mag dem Verkehr dienen, die Passage gewiss nicht. (Wenigstens nicht dem Verkehr im allgemeinen.) Hier ist noch geradezu ein Abendkorso. Hier lustwandelt, ja lustwandelt man zwischen Jahrmarktsromantik und warmer Liebe; die Bücherläden stellen keine Lehrbücher zum Verständnis des Kurszettels und keine Wälzer über die Kriegsursachen aus; sondern „Das Liebesleben des Urnings“, „Als ich Männerkleider trug“, Die Renaissance des Eros Uranos“, Die Grausamkeit mit besonderer Bezugnahme auf sexuelle Faktoren“, Das Recht des dritten Geschlechts“, „Gynäkomastie, Feminismus und Hermaphroditismus“; das Schaufenster der Bilderhandlung ist fei von Liebermann, Pechstein oder Brangwyn-Graphik, aber auch von Linoleumschnitten frei, wir sehen badende Knaben auf den Felsen der Blauen Grotte und ein blondes unschuldvolles Mädchen, bloß mit Gretchenfrisur bekleidet; auch ein Panorama ist da – die fossile Zwischenstufe zwischen Daguerreotypie und Kintopp – mit allwöchentlich wechselndem Programm, ein chiromantischer Automat ruft mit großer Aufschrift, Konfitürengeschäfte, Spezialgummiwaren, Botenjungengesellschaft, zwei Schnellphotographen, Automatenbüfett, eine Duftei halten ihre Ladentür lange offen.
Das Passagepanoptikum ist das einzige, das uns seit Castans Ende noch geblieben ist. Mit herrlichen Genregruppen aus Wachs, „Das Duell“, „Ein verliebter Schornsteinfeger“, „Heimgezahlt“, „Ein verpatzter Hochzeitsfrack“, „Aller Anfang ist schwer“ (besonders beim Parademarsch! Hochaktuell!), „Barbarossa im Kyffhäuser“, „Am Tor des Findelhauses“, „Berlin bei Nacht oder der Jüngling im Séparée“, der Fürstensaal und die Akademie der Berühmtheiten, Märchensaal und humoristischer Vexierspiegel, sehr humoristisch, und die berühmte „Verbrechergeschichte von der Tat zum Schafott in acht Bildergruppen“, wovon besonders Nummer hundertfünf (Einbruch in die Totenkammer und Leichenraub) ziemlich bezaubernd ist. Dabei ist all das – was mit Nachdruck bemerkt sei – keineswegs belehrend, sondern eher – was mit Lob bemerkt sei – irreführend, ebenso wie man die Darbietungen der Automaten im Vestibül, „Geheimnisse des Schlafzimmers“, „Das Astloch im Zaun des Damenbades“, „Heirat auf Probe“, nicht etwa für aufschlussreich halten darf. Junge Freunde, die ihr vor den Gucklöchern mit gezücktem Fünfzigpfennigstück Polonäse steht, glaubt mir erfahrenem Greise, es ist unwahr, dass in einem Schlafzimmer fünf miese und (zum Glück) sehr bekleidete Weiber der achtziger Jahre in den Posen eines Cancans zu erstarren pflegen! Der Automat „Die Brautnacht“ funktioniert übrigens nicht, trotzdem nichts anzeigt, dass er außer Betrieb ist, seid also gewarnt, Mädchen!
Kommt, vertieft euch vielmehr in die Betrachtung der zwar arg verblassten, aber dafür wirklichen, wahren und naturgetreuen Photographien oben an der rechten Wand: Dort hängt unter Glas und Rahmen die Porträtgalerie jener Berühmtheiten, zu denen vielleicht unsere Eltern pilgerten und sicherlich am Sonntag deren Dienstmädchen, die Ruhmeshalle jener Abnormitäten, die mit großen Plakaten und lauten Ausrufern durch die Welt zogen, um sich bestaunen zu lassen. Nichts ist von ihnen mehr erhalten als höchstens ein Präparat in irgendeiner pathologisch-anatomischen Klinik – und diese vergilbte Walhall im Vestibül des Passagepanoptikums. Grüßet sie ehrerbietig! Lionel, der Löwenmensch, der Liebling der Frauen und Jungfrauen – so siehst du aus! -, ist da, Hunyady János, der Mann mit dem Vogelkopf, ist auch da, das Riesenkind Elisabeth Liska aus Russland, elf Jahre alt, zwei Meter zehn hoch, die hinten zusammengewachsenen Schwestern Bozena und Milada Blazek, Miss Crassé, das Tigermädchen, die riesige Tiroler Mariedl beim Melken ihrer Lieblingskuh, Riesenbackfisch Dora, La belle Annita, die tätowierte Schönheit, Prinzessin Kolibri, die kleinste Dame der Welt, Pirjakoff, der größte Mensch, der je gelebt hat, Machnow, der größte Mensch, der je gelebt hat, Hassan ben Ali, der größte Mensch, der je gelebt hat, Mr. Masso, der Kettensprenger, Haarathlet Simson, Hungerkünstler Papus und Hungerkünstler Succi, Mr. Tabor, der Muskelmensch mit dem dreifach gedrehten Arm, die behaarte Miß Pastrana, der lange Josef, der größte Soldat der preußischen Armee, mit Toni Marti, dem schwersten Knaben der Welt, die Schwestern Willfried, die stärksten Kinder der Welt, anderthalb und zweieinviertel Jahre alt, November 1902. Ach niemand besieht das Pantheon dieser Größen von einst, deren Leben es war, umherzufahren in der Welt, sich schauzustellen vor einem Zehnpfennigpublikum im matten Vormittagslicht eines Kirchweihzeltes oder eines Gasthauszimmers oder im allzu grellen Schein der abendlichen Zirkusmanege. Ausgebeutet, wiesen sie auf ihren monströsen Geburtsfehler und erklärten ihn mit papierenem, eingelerntem Text. Oder waren sie stolz auf ihn? Wir wissen nichts mehr von ihnen, als dass sie auch im Passagepanoptikum zu Berlin gastierten. Hier blieb ihr Bild bestehen, doch verblasst es von Jahr zu Jahr.
Viel besichtigter ist drüben, am anderen Ufer der Passage im Halbstock, das Anatomische Museum. Auch hier locken schon unten Puppen die Pupen und die Nutten an und jene, die es werden wollen. Ein wächserner Virchow, vor einem Totenschädel dozierend, ist stummer Ausrufer, im Vereine mit einem Mädchen, das auch die inneren Geheimnisse preisgibt, weil sogar die Bauchhöhle aufgedeckt ist; eine Reklametafel zeigt die Wirkungen des Miedertragens und ruft: ‘Erkenne dich selbst – so schützest du dich.’ Es kostet zwölf Mark fünfzig, sich selbst zu erkennen, wovon zwei Papiermark auf die Vergnügungssteuer entfallen; das Extrakabinett, ‘nur für Erwachsene’, erfordert kein Sonderentree. Ein Vorhang teilt dieses Allerheiligste der Passage vom profanen Teil des Anatomischen Museums und ist Besuchern unter achtzehn Jahren nicht zugänglich. Eine Tafel, von Viertelstunde zu Viertelstunde umgedreht, kündet: ‘Jetzt nur für Damen’, bzw.: ‘Jetzt nur für Herren’. Das eben ausgesperrte Geschlecht hat inzwischen in den ungeheimen Räumen herumzulungern, sich die plastischen Darstellungen des Verdauungsprozesses, der Hämorriden, der Cholerawirkungen, einer Zungenkrebsoperation, der Verheerungen des Branntweins in den Eingeweiden und dergleichen anzusehen und im Automaten die Gebärmutteroperation. Dann aber, dann dürfen die erwachsenen Herren bzw. die erwachsenen Damen - achtzehn Jahre ist man hier gewöhnlich mit vierzehn Jahren - in das Sanktuarium eintreten, wo die Chromoplastiken in natürlicher Größe all das zeigen, was man im Konversationslexikon nur schwer begreifen vermochte und worüber das Leben nur fallweise aufklärt.
Es ist alles echt oder lebenswahr, leibhaftige Fötusse, die Entwicklung des Menschen von der Befruchtung bis zur Normal-, Steiß- oder Zangengeburt, Perforation oder Kaiserschnitt; Organe und so weiter – alles bis aufs Haar genau und im Katalog noch genauer erklärt. Mit Recht ist in der Rubrik „Weibliche Geschlechtskrankheiten“ als erstes Schauobjekt das Hymen oder Jungfrauenhäutchen angeführt, denn von allen besagten Krankheiten ist diese am raschesten heilbar. Sie ist selten, und man bestaunt das Objekt sehr. Allzulange aber nicht, denn nur ein Viertelstündchen darfst du weilen, draußen scharrt schon das andere Geschlecht.
Die Linden-Passage hat ihr unverrückbares Stammpublikum, keine Straße besitzt so viele Freunde und so geschlossenen Verehrerkreis. Und von denen, die der Passage Freunde sind, lieben einige das Panoptikum heiß und treu; unter diesen sind Fanatiker des Anatomischen Museums und von diesen wiederum manche unbedingte Hörige der Geheimkammer, gebannt von irgendeiner Vitrine. Die ist demnach das Liebste der Auserlesenen – das Schönste also von Berlin. Was nämlich zu beweisen war.“
Egon Erwin Kisch: Der rasende Reporter. In: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Berlin und Weimar 1978, S. 170-174
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Samstag, 11. Juli 2009

Damals, als ich ein Kind war, gab’s noch Zwerge


Titel eines Führeres von 1899, Sammlung Nagel 


1922 wurde Castans Panoptikum, seinerzeit eines der renommiertesten Wachsfigurenkabinette, geschlossen und die Exponate versteigert. Bieter der Figuren und Reliquien – „alles notariell beglaubigt“ - waren Antiquitätenhändler, Theaterausstatter, Liebhaber und nicht zuletzt Schaubudenbesitzer. Manch reisendes Panoptikum wird durch Castans Ende beträchtliche Aufwertung erfahren haben…
Paul Schlesinger schilderte in der Vossischen Zeitung vom 20.2.1922 seine Eindrücke von einem letzten Besuch am Vorabend der Versteigerung. Die Abschiedsvisite wird zu einem Trip in Erfahrungswelt der eigenen Kindheit:
Abschiedsvisite bei Castan
Nur auf diesem Wege anstandshalber die Mitteilung, dass ich Dir, lieber Castan, heute einen heimlichen Abschiedsbesuch gemacht habe. Mittwoch wird dein Panoptikum versteigert. Einmal wollte ich noch sehen, was eigentlich bei Dir los war.
Die Heimlichkeit war nicht sehr freiwillig. Ich ging rasch in den großen Restaurationssaal, in dem von Tischen, Stühlen, Waffen, Bildern ein ziemliches Durcheinander herrschte. Einen einsamen Herrn sah ich bei einem halben Glase Bier sitzen. Ich ging nur zwei Schritte auf ihn zu – dann erkannte ich: das ist immer noch der gleiche Herr aus Wachs, der seit meiner Kindheit Tagen an dem Tische saß und von so vielen Provinzlern angesprochen wurde: wieviel Uhr es denn sei – oder so. Das Widersehen mit mir ging nicht ohne Erschütterung vor sich. Damals war der einsame Herr viel älter als ich. Heut, nach mehr als 30 Jahren, bin ich etwas älter als er – oder viel viel älter.
(…) Auf der Treppe las ich die Worte: ´Zur Schreckenskammer`. Schon zwängte sich aus vergittertem Fenster ein Sträfling zur Flucht. Mein Herz stand still. An die Schreckenskammer hatte ich nicht gedacht. Nichts hatte ich als Kind mehr gefürchtet als diese Treppe, und nie hatte ich sie betreten. Und jetzt wollte ich so einfach weil die Herren gerade oben seien – so geschäftsmäßig kühl da hinaufgehen? Ich musste mich zusammennehmen. Ich stieg hinauf, ich trat ein. Die Herren waren gar nicht da, aber etwas anderes, Fürchterliches stürzte auf mich. Das entsetzliche schweigsame Alleinsein mit 50 wächsernen Mördern und Mörderinnen. Sie standen herum, ihre abgeschlagenen Häupter hingen an den Wänden. Folterinstrumente, Beile, schreiende Menschen, gemartert von der erfinderischen Justiz aller Jahrhunderte – und ich allein, wieder das gequälte Kind, das unten an der Treppe wartete, während die älteren Geschwister so ruhig hinaufgegangen waren – fort, nur fort.
Ich stolperte die Treppe hinunter. Erst vor Dornröschen beruhigte ich mich. Nun bewegte der Elektromotor nicht mehr ihren Busen, der früher so regelmäßig auf und nieder ging. Dann kam ich zu den Riesen, deren Namen ich früher so genau kannte, und die ich nun alle vergessen habe. Und daneben stand immer noch Herr Ulpts, der Zwerg, den ich doch lebendig gekannt hatte. Damals, als ich ein Kind war, gab’s noch Zwerge. Ich trete an einen vergitterten Balkon, und ich sehe hinab in den berühmten Kaisersaal, in dieses feierlich tote Gewimmel von wächsernen Gestalten! War hier nicht einst die Kaiserproklamation nachgebildet? Die beiden Gardes-du-Corps in rotem Wams stehen immer noch zu Füßen des Podiums. Aber dann, das weiß ich auch noch, stand Wilhelm II. vor dem Thronsessel. Er ist nicht mehr da; an seiner Stelle sitzt, grausig puppenhaft von Hermelin umflossen, Friedrich der Große, König von Preußen – den letzten hat der erste abgelöst. Links von ihm erkenne ich eine feldgraue Gruppe: Hindenburg und Ludendorff.
Mir ist, als hätte wer geseufzt. Ich blicke auf: Dort drüben ist noch ein Balkon, über ihn lehnt sich eine dunkle, schlanke Dame. Hat sie geseufzt? Aber nein, sie ist ja aus Wachs und wartet nur, dass sie unter den Hammer kommt.
Es zieht mich hinunter in den Saal der prunkenden Uniformen. Bismarck, Moltke, Prinz Friedrich Karl – sie haben ihre stolze, ablehnende Haltung mir gegenüber seit 30 Jahren bewahrt. Da Kaiser Friedrich, daneben an der Wand doch noch Wilhelm II. Kein Lüftchen bewegt seinen Federbusch. Welch wächserne, gläserne Oede in dieser Fürstengruft! Eine Bewegung, eine einzige, und es müsste klirren von Orden, Ketten, Waffen. Nichts. Nur ich – lebe. Eigentlich sind sie alle wehrlos, auch Sie, Herr Poincaré, mit dem Ordensband, und ihre britische Majestät…
Und Goethe, Schiller, Wagner, Rubinstein – musste das sein? Hat das sein müssen, lieber Castan? Da steht auch Ebert neben Scheidemann.Weiß Gott, niemals war ich so überzeugt vom Vorzug der Unberühmtheit.
Da –ich lache hell auf! Ihr seid noch alle da, ihr geliebten Vexierspiegel? Wer kann das widerstehen? Ich will ganz allein über mich lachen. Ich mache mich ganz dick und ich zerfließe in die Breite. Ich schneide eine Grimasse – ha, mein Mund reicht von Paris nach Petersburg. Und nun ganz dünn. Ich will doch probieren, ob ich so aussehen kann, wie ich eigentlich aussehen möchte – so ist es gut. So ungefähr. Das sit mein seelisches Format. Wnn ich mich so photographieren lassen könnte … ich dreh’ mich nur halb – was ist das? Mein Bauch ist gewölbt, geschwollen, ein Ballon – ich lache laut – mich erschreckt mein eigenes Lachen.
Fort – hinaus. Adjö, lieber Castan. Hinaus auf die graue, trübe Friedrichstraße. Sie ist verwahrlost, im Straßenschmutz liegen Bettler, an den Ecken schreien die Händler. Jawohl – wir haben den Krieg verloren; aber wir sind nicht aus Wachs, wir leben.
Zusammenfassend, lieber Castan: Als ich ein Kind war, hast Du mir wohl Spaß gemacht. Heute warst du ein schwerer, furchtbarer Traum. Und ich weiß nicht, welcher deiner Säle keine Schreckenskammer war. Und nun ziehe in Frieden. Ich weiß, deine Lebensarbeit ist nicht tot. Deine Puppen werden nicht zerschlagen, nur versteigert. Sie werden sich da oder dort auftun, und das Volk wird staunen, und die Kinder werden gaffen und sich fürchten. Aber ich bin von dir erlöst – für den Rest meiner Tage.“

Paul Schlesinger („Sling“): Abschiedvisite bei Castans. In Vossische Zeitung vom 20.2.1922, zit. n. Angelika Friederici: Castans Panopticum. Ein Medium wird besichtigt. Heft F1 – Castans Könige im Ramsch. Berlin 2008

Donnerstag, 5. März 2009

Den Kaisersaal schenkte man sich

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„Saal der Mörder“ - Abbildung aus: Goscinny/ Tabary: Das Wachsfigurenkabinett. 
In Band 15 der Abenteuer des Kalifen Harun al Pussah: Ich will Kalif werden anstelle des Kalifen, S.25
                                                
In seinen sehr lesenswerten Lebenserinnerungen schildert der großartige Komponist wunderbarer Chansons und Filmmusiken Friedrich Hollaender (Lieder eines armen Mädchens, Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre, Wenn ich mir was wünschen dürfte, …) Eindrücke seiner Besuche in einer Berliner Institution: Castans Panoptikum. Die Schwerpunkte seines Interesses werden mit denen vieler anderer Besucher übereingestimmt haben:

„Castans Panoptikum! In der Vitrine davor, zum Anlocken: die wächserne Schläferin, deren Busen sich hob und senkte. Später dann, wenn man das Treppenhaus betrat und sein Billett dem Kontrolleur zum Lochen vorwies, war der auch aus Wachs! Aber der zweite, an dem man vorbeiging, weil er ebenfalls aus Wachs war, der sagte: ‚Warten Se mal, Mäneken!’ Den Kaisersaal schenkte man sich. Auch den Märchensaal, obwohl die Aschenbrödeltauben nach Einwurf von zehn Pfennigen sehr emsig pickten. Aber nachdem man’s dreimal gesehen hatte, pickten sie einem zu emsig.
Zur ‚anatomischen Abteilung’ kam man immer wenn gerade Besuchszeit für die andere Hälfte der Menschheit war. Na, auch nichts verloren! Dabei waren es gute Plastiken. Aus dem Leben gegriffen, möchte man sagen.
Dafür war die Schreckenskammer jederzeit geöffnet. Haarmann mit dem Hackebeil, Giftmariechen mit dem Silberblick, der schiefe Otto mit der Würgehand. Wie schön! Und vor allem das Guckloch in die Hölle, in der nackte Damen ein Rasiermesser hinunterritten. Alles in Bewegung, für einen Groschen. Nebenan waren die Politischen: Iwan der Schreckliche, Luccheni, der Mörder der schönen Kaiserin Elisabeth. Ob sie den Herrn aus dem Münchner Bürgerbräu auch einmal ausstellen werden? Wie ich meine Deutschen kenne, werden sie ihn eines Tages dahin verfrachten. Und eines Tages werden sie ihn wieder herausholen.”
Verfolgt von Glasaugen, Flachshaar und Wachsgrübchen, glaubte man den lebendigen Kopien auf der Straße keinen Atemzug. Dem Herrn, zum Beispiel, der sich vor dem nächsten Schaufenster, einem Elektrogeschäft, so übertrieben den Hals verrenkte, hatte bestimmt jemand 10 Pfennige in den Schlitz geworfen.“

Friedrich Hollaender: Von Kopf bis Fuß. Revue meines Lebens. Berlin 2001, S.132f
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Sonntag, 16. November 2008

Eine höchst wunderliche Generalversammlung menschlicher Zustände


anatomisches Wachspräparat (Detail), Sammlung Nagel 

Gottfried Keller (1819-1890) skizziert in seinem Tagebucheintrag vom 1. Mai 1848 ein Bild des Jahrmarkts um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Künstler und „Besitzer von Merkwürdigkeiten“ werben vor ihren grell bemalten Schaubuden um das Publikum.

Das eine besondere morbide, beklemmende Atmosphäre ausstrahlende Wachsfigurenkabinett beinhaltet neben Wachsfiguren bereits „anatomisch-patholgische“ Ausstellungsstücke sowie Feuchtpräparate „in einer langen Reihe von Gläsern“.
Moulagen (krankhafter) Körperteile und Organe sowie verschiedene in Paraffin oder Spiritus konservierte Präparate zählten im 19. Jahrhundert zunehmend zum festen Bestand der Panoptiken und trugen nicht unwesentlich zu der schaurigen Wirkung bei.
In erster Linie wurde hiermit natürlich auf einfache Schaugelüste abgezielt. Vordergründig vertraten die Schausteller mit ihren „wissenschaftlichen“ Ausstellungen hingegen den Anspruch der Volksaufklärung bzw. –belehrung.
  
„Am Abend des 1. Mai 1848 
(…)
Ich ging in die Stadt, wo Jahrmarkt war. Es war viel Volk hereingekommen und trieb sich emsig herum, doch war sein Verkehr mehr scheinbar; denn alles klagte über den großen Geldmangel und die schlimme Zeit. Am fröhlichsten waren die jungen Soldaten, welche in ihren neuen Uniformen der Not und der Bestürzung des Tages vergaßen und singend umherzogen. Wann werden die Frühlinge nahen, wo diese blutroten Menschenblumen nicht mehr jedesmal mit den tausend andern Blumen hervorkriechen und ihre unheilvolle Pracht an der Sonne spiegeln?
Am meisten niedergeschlagen waren die Künstler und die Besitzer von Merkwürdigkeiten, weil fast niemand um ihre Produktionen sich bekümmern mochte. Da standen sie in ihren traurigen bunten Jacken vor den Buden und stießen unsicher und klagend in die schadhaften Trompeten, daß einem die Tränen in die Augen traten. Weil das Volk kein Geld hatte, so spottete es zum erstenmal über diese Herrlichkeiten, welche es sonst bewunderte, und die Gaukler standen scheu und schlotternd vor ihren gemalten Wundern.
Ich trat in ein Wachskabinett; die Gesellschaft der Potentaten sah sehr liederlich und vernachlässigt aus, es war eine erschreckende Einsamkeit, und ich eilte durch sie hin in einen abgeschlossenen Raum, wo eine anatomische Sammlung zu sehen war. Da fand man fast alle Teile des menschlichen Körpers künstlich in Wachs nachgebildet, die meisten in kranken, schreckbaren Zuständen, eine höchst wunderliche Generalversammlung von menschlichen Zuständen, welche eine Adresse an den Schöpfer zu beraten schien. Ein ungeheuer großes Herz, welches seinen Eigner getötet hatte, führte das Präsidium, und ein sehr schön ausgebildeter Magenkrebs schien der Sekretär oder Schriftführer zu sein. Ein ansehnlicher Teil der ehrenwerten Gesellschaft bestand aus einer langen Reihe Gläser, welche vom kleinsten Embryo an bis zum fertigen Fötus die Gestalten des angehenden Menschen enthielten. Diese waren nicht aus Wachs, sondern Naturgewächs und saßen im Weingeist in sehr tiefsinnigen Positionen. Diese Nachdenklichkeit fiel um so mehr auf, als diese Burschen  eigentlich die hoffnungsvolle Jugend der Versammlung vorstellten. Plötzlich aber fing in der Seiltänzerhütte nebenan, welche nur durch eine dünne Bretterwand abgeschieden war, eine laute Musik mit Trommel und Zimbeln zu spielen an, das Seil wurde getreten, die Wand erzitterte, und dahin war die stille Aufmerksamkeit der kleinen Personen, sie begannen zu zittern und zu tanzen nach dem Takte der wilden Polka, die drüben erklang; das große Herz mochte noch so geschwollen aussehen, der Magenkrebs noch so rot werden vor Ärger, es trat Anarchie ein, und ich glaube nicht, daß die Adresse zustande kam. Die einzige Merkwürdigkeit des Marktes, welche einigen Zuspruch erhielt, war ein Rhinozeros. Das Schicksal dieser antediluvianischen Bestie ist eng mit dem Fall des Königtums in Frankreich verknüpft, indem sie für den Jardin des plantes in Paris bestellt, aber von der provisorischen Regierung wieder abbestellt wurde, weil man dort jetzt das Geld sonst brauche. Heimatlos irrt das altmodische Tier nun in der Schweiz umher, doch ist es nicht brotlos, da seine Seltsamkeit und sein Horn auf der Nase ihm ein hinlängliches Auskommen sichern. Wohl jedem, der in diesen Zeiten etwas Rechtes gelernt hat!“

Gottfried Keller: Das Tagebuch und das Traumbuch. (1847/48). 2. Aufl. Klosterberg, Basel 1945, S.93f
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Sonntag, 9. November 2008

In Wachs modellierte Fünfkreuzer-Romane


 um 1910, Sammlung Nagel
                                                        
Das vielgestaltige Oeuvre des österreichischen Schriftstellers Felix Salten (1869-1945) reicht von der Tiererzählung „Bambi“ bis hin zum Roman „Josefine Mutzenbacher. Die Geschichte einer Wienerischen Dirne“, dessen Autor er höchstwahrscheinlich ist. In seinem Essay „Wurstelprater  beschreibt er ebenso atmosphärisch-dicht wie ungeschminkt das Treiben in den Buden und Lokalen dieses bekannten Vergnügungsparks.
Das Kapitel „Panoptikum“  bezieht sich offensichtlich auf  Präuschers Panopticum auf dem Pratergelände, auch wenn dieser Name nicht erwähnt wird.

Wie auch in Saltens Text deutlich wird, zählte Präuschers Panopticum zu den zahlreichen Vertretern seiner Art, die mit verschiedensten skurrilen, frivolen, makabren, grausigen oder auch abstoßenden Exponaten auf einfache Schaugelüste abzielten. Neben den üblichen Objekten wie Prominente, pikante Szenerien, Moulagen, Verbrecher, Abnormitäten und Feuchtpräparate zeigte er zwischenzeitlich u.a. das Stopfpräparat des „Haarweibs“ Julia Pastrana.  
Hermann Präuscher war ein Schausteller reinsten Wassers. 1864 als Raubtierdompteur in den Wiener Prater gekommen, gründete er 1871 eine Kuriositätenshow mit einer von seinem Vater, einem Menageriebesitzer, geerbten Sammlung von tierischen Präparaten, Wachsfiguren und anatomischen Präparaten. Die Schau wuchs schnell zu einem weithin bekannten Panoptikum an, wobei es Präuscher in besonderer Weise verstand, seinem Publikum belanglose Alltagsgegenstände als bedeutende „Reliquien“ zu präsentieren. So zeigte er zum Beispiel einen Koffer des Raubmörders Johann Szimitz, in dem dieser die Leiche eines Opfers aufbewahrt hatte und „neben dem er sechs Wochen schlief“. Selbstverständlich hatte er für jedes seiner makabren Exponate „Beglaubigungsschreiben“ von Experten und Staatsanwaltschaften, die für deren Echtheit bürgten…
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Unter den Ausstellungsobjekten, die Salten explizit erwähnt, ist der „Panoptikums-Klassiker“ „Gorilla raubt Farmerstochter“, bei Präuscher „Gorilla, ein weißes Mädchen raubend“ (Katalognummer 75).
Im 19. Jahrhundert hielten sich hartnäckig Gerüchte über Gorillas, die „Negerfrauen“ raubten. Entsprechende Szenerien wurden auch in Wachsfiguren gezeigt. Ende des 19. Jahrhunderts verbreitete sich ein Bericht, wonach in der Provinz Transvaal die in einem Waldsee badende 18-jährige Tochter eines Plantagenbesitzers von einem Gorilla geraubt und bei Befreiungsversuchen durch Eingeborene von dem Tier erdrückt worden sei.
Auch wenn Geschichten um Frauen raubende Gorillas jeglicher Grundlage entbehrten, so fand diese Variation des alten „Die Schöne und das Biest“–Themas weite Verbreitung – bis hin zu der bei Salten erwähnten und von einigen Wachsbildhauern nachgeahmten Skulptur von Emmanuel Fremiet (1824-1910) oder dem Kinoklassiker „King Kong und die weiße Frau“.    

Holzstich nach Freimets Skulptur, Ende 19. Jh.
Sammlung Nagel

(Quellen: Ausstellungsführer verschiedener Panoptiken; www.schaubuden.de; Wolfgang Regal/ Michael Nanut: Das Panopticum und Menschenmuseum des Hermann Präuscher im Prater. In: Ärzte Woche, 20. Jahrgang Nr.49, 2006)
    
„Die Leute, die sich gerne in die Nähe der Berühmtheiten drängen, die schon zeitlich morgens aufstehen und zum Bahnhof zu laufen, wenn der deutsche Kaiser nach Wien kommt, alle, welche große Männer um Photographie und Autogramm anbetteln, dann jene, die den Gerichtssaal und die Berichte über den neusten Raubmord voll Begierde verschlingen, und noch die vielen anderen, die mit stumpfen Organen die Kunst begaffen und betasten, müssen gerne hierher gehen.
Denn es ist gerade im Panoptikum alles, was die Menge braucht. Jenes widerwärtige Gemisch, das als Surrogat des echten Lebens von allen genossen wird, und das alle verblödet. Die großen Männer in ihren Hausröcken oder in typischer Gala; die blutigen Verbrecher, ihre Einrichtung, ihre Mordwerkzeuge, ihre Schuhe – alles mit der Genauigkeit sensationeller Zeitungsartikel – und eine ordinäre Kunst, deren bunte Lappen jeder greifen kann. Da stehen Goethe und Schiller in staubigen Röcken, Voltaire mit schmutzigem Jabot, Richard Wagner in hellen Beinkleidern, die auf der Mariahilfer gekauft wurden, Moltke und Bismarck in voller Uniform, blitzende Blechorden auf der mit Sägespänen gefüllten Brust, Prinz Eugen, Andreas Hofer und Radetzky – und die Leute stellen sich vor ihnen auf, schauen ihnen ins Gesicht; sie können sich einbilden, es sei ein bedeutender Moment, und sie ständen jetzt diesem oder jenem Helden gegenüber. Dort wieder ist Otto Schenk, Schlossarek, das Ehepaar Schneider, Francesconi, in Wachs modellierte Fünfkreuzer-Romane.
Dann sieht man gestellte Bilder nach Munkacsy, und an den Wachspuppen merkt man erst, wie opernhaft gruppiert diese Bilder sind, wie unmoralisch sie sind, dass man sie aus den Rahmen nehmen und ausstopfen könnte. Invaliden von Friedländer, die aussehen, als säßen sie Modell, feiste Mönche von Grüßner, `dralle´ Diarndln von Schmidt, zuckersüße Nymphen von Thumann. Auch der herrliche `Frauenraub´ von Fremiet ist da, aber der steinerne Gorilla hat hier ein wirkliches Fell, er bewegt das Maul, und das Weib, das er hält, hat einen Körper wie Rosa-Seife. Den `Verurteilten´, die Invaliden, die Mönche, die Diarndln und die Nymphen mag man dem Panoptikum lassen, den Fremiet sollte man konfiszieren.
Das Licht des verdämmernden Nachmittags fällt in den weiten Raum auf all die Figuren, die mit starren, toten Gebärden dastehen in verschlissener, schäbig gewordener Pracht. Es ist, als wären schon hundert Jahre vorbei, und alles, was die Welt bewegte, stände hier wie morsches Gerümpel in einer Scheuer beisammen – Bismarck und Moltke und Richard Wagner und Munkascy und Hugo Schenk.“

Felix Salten: Wurstelprater. Wien 1911, S.62-64 
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Freitag, 31. Oktober 2008

Mrs. Jarleys unvergleichliche Wachsfigurenschau

Abbildung aus der Erstausgabe von Charles Dickens The Old Curiosity Shop (1841)

Das Werk von Charles Dickens gibt zahlreiche Einblicke in die Lebensumstände des einfachen Volks in England um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Vergnügungen dieser Schichten bleiben dabei nicht unbeachtet – und ein wichtiger Teil der volkstümlichen Unterhaltungskultur waren die reisenden Schausteller.

Eine der skurrilen Figuren ist „Doktor Marigold“ in Dickens’ gleichnamiger Erzählung. Marigold ist ein fahrender Händler, der vom Trittbrett seines Wagens in höchst origineller Weise sein Publikum unterhält. Er macht u.a. Bekanntschaft mit dem auf Jahrmärkten zur Schau gestellten gutmütigen, aber schwerfälligen Riesen „Pickleson“.

Besonders aufschlussreich ist die Dickens Schilderung des Greenwicher Markts mit seinen zahlreichen Schaustellungen, wobei er in seiner liebenswert-ironischen Art auf ein ambulantes Vergnügungslokal, eine Menagerie und ein Jahrmarktstheater genauer eingeht.

Auch die kleine Nelly im Roman „Der Raritätenladen“ kommt mit der Welt der reisenden Unterhaltungskünstler in Berührung. Hierbei findet sie zwischenzeitlich Anstellung in Mrs. Jarleys Wachsfigurenschau.

Mrs. Jarley, „eine christliche Dame, rundlich und gemütlich anzusehen, die einen großen Hut mit wippenden Schleifen trug“, gehört zur „Schaustelleraristokratie“. Sie muss nicht in Scheunen oder bestenfalls drittklassigen Gasthöfen übernachten, Mrs. Jarley logiert in einem luxuriösen Reisewagen. Außerdem rühmt sie sich, ihre Wachsfiguren nicht in einer Schaubude, sondern in gemieteten Räumlichkeiten auszustellen.

Die genauen, augenzwinkernden Beschreibungen des Etablissements einschließlich vieler genretypischer Werbemethoden lassen darauf schließen, dass Charles Dickens solche Schaustellungen sehr gut gekannt hat. Das Vorbild für Mrs. Jarley soll dabei Madame Tussaud gewesen sein.

„(…) „Da, mein Kind“, sagte sie, lies das!“

Nelly ging daran entlang und las laut, war mit riesigen schwarzen Buchstaben darauf stand: „JARLEYS WACHSFIGUREN.“

„Lies es noch einmal“, sagte die Dame freundlich,

„Jarleys Wachsfiguren“, wiederholte Nelly.

„Das bin ich“, sagte die Dame. „Ich bin Mrs. Jarley.“

Sie sah das Kind ermutigend an, um es zu versichern und wissen zu lassen, dass es, obwohl es da in Gegenwart der wirklichen Mrs. Jarley stand, nicht gänzlich überwältigt und benommen zu sein brauchte. Dann entfaltete sie eine zweite Rolle mit der Inschrift: „Einhundert Figuren in voller Lebensgröße“, und endlich mehrere kleinere Rollen mit „Ausstellung hier!“, „Echte und einzige JARLEY“, „Jarleys unvergleichliche Sammlung“, Jarley ist das Entzücken des Adels und der vornehmen Welt“ und „Die königliche Familie ist Jarleys Gönnerin“. Als sie diese Ungeheuer öffentlicher Reklame dem erstaunten Kind gezeigt hatte, kamen kleinere Spielarten in Gestalt von gedruckten Zetteln zum Vorschein – einige davon waren Parodien beliebter Schlager (…), während andere, um jedem Geschmack zu genügen, für leichtere und witzigere Gemüter zusammengereimt waren, wie die Parodie auf „Wenn ich einen Esel hätte“, die mit den Zeilen begann:

„Hätt ich einen Esel schlau,

Lief ich flugs zu Jarleys Schau.

Nimmer weiter würd er gehen,

Ohne Jarleys Schau zu sehen …“

Dazu kamen einige Stücke in Prosa: ein Dialog zwischen dem Kaiser von China und einer Auster, ein anderer zwischen dem Erzbischof von Canterbury und einem Ungläubigen über die Kirchensteuer und andere mehr, alle mit demselben Rat: dass jeder sich eiligst zu Jarleys Wachsfigurenschau zu begeben habe und dass Dienstboten und Kinder nur die Hälfte zu zahlen hätten. Nachdem Mrs. Jarley all diese Beweise ihrer wichtigen gesellschaftlichen Position herangezogen hatte, um ihre junge Gefährtin zu beeindrucken, rollte sie sie wieder auf, verstaute sie sorgsam, setzte sich wieder und blickte das Kind triumphierend an.

„Daß du dich nie mehr in die Gesellschaft eines schmutzigen Punchs begibst, nachdem du dies gesehen hast!“ sagte sie.

„Ich habe noch niemals Wachsfiguren gesehen, Madam“, sagte Nell. „Sind sie noch lustiger als der Punch?“

„Lustiger?“ wiederholte Mrs. Jarey mit schriller Stimme. „Lustig sind sie überhaupt nicht.“

„Oh!“ sagte Nell mit aller denkbaren Ehrfurcht.

„Lustig sind sie überhaupt nicht“, wiederholte Mrs. Jarley. „Sie sind ruhig und – wie heißt das Wort doch – kritisch? - nein – klassisch, das sind sie: ruhig und klassisch. Es gibt keine Rüpel- und Prügelszenen, keine Späße und kein Gequieke wie bei deinem lieben Pusch; die Schau ist immer dieselbe, stets und ständig etwas Kühles, Vornehmes – und die Figuren sind so lebenswahr, dass du kaum einen Unterschied erkennen würdest, wenn sie sprächen und herumliefen. Ich will nicht so weit gehen, zu behaupten, dass ich Wachsfiguren gesehen habe, die vollkommener als das Leben sind, aber ich habe sicherlich manches im Leben gesehen, das genauso war wie eine Wachsfigur!“ (…)

„Wenn ihr wirklich geneigt seit, Euch ebenfalls zu beschäftigen, so gäbe es reichlich für Euch zu tun. Ihr könntet helfen die Figuren abzustauben, könntet kassieren und so weiter. Die Arbeit Eurer Enkelin bestünde darin, dass sie sie dem Publikum vorführt und erklärt. (…) Das ist kein alltägliches Angebot, bedenkt das wohl“, sagte die Dame und verfiel allmählich in den Ton, mit dem sie ihre Besucher anzureden pflegte. „Es handelt sich um Jarleys Wachsfigurenschau, vergesst das nicht! Die Arbeit ist leicht und angenehm, die Gesellschaft erlesen, die Ausstellungen finden in Versammlungsräumen statt, in Gemeindesälen, Stadthallen, großen Gasthaussälen oder Auktionsgalerien. Bedenkt, bei Jarley gibt es kein Herumstromern im Freien, keine Zeltleinwand, keine Sägespäne – vergesst das nicht! Jede Erwartung, die wir durch unsere Zettel wecken, wird bis zum äußersten erfüllt, und das Ganze ergibt eine Wirkung von imponierender Pracht, wie sie in unserm Königreich nicht ihresgleichen hat. Und denkt daran, dass der Eintrittspreis nur sechs Pence beträgt und dass dies eine Gelegenheit ist, die Euch vielleicht nie wieder geboten wird!“

Als sie diesen Punkt erreicht hatte, stieg sie von der Höhe ihres Pathos herab und wendete sich den Einzelheiten des gewöhnlichen Lebens zu; im Hinblick auf das Salär bemerkte sie, sie könne sich zu keiner festen Summe verpflichten, ehe sie Nells Fähigkeiten genugsam erprobt und sie bei der Erfüllung ihrer Aufgaben genau beobachtet habe. Aber sie verpflichte sich bereits, ihnen Wohnung und Verpflegung für Nell und ihren Großvater zu liefern, und darüber hinaus verpfände sie ihr Wort, dass die Verpflegung in Qualität und Quantität reichlich bemessen sein würde.“ (…)

Inzwischen polterte der Wagen weiter, als hätte auch er starkes Bier getrunken und wäre nun schläfrig, und endlich kam er auf die gepflasterten Straßen einer Stadt, die frei von Fußgängern und sehr ruhig waren, da es bereits auf Mitternacht ging und die Stadtbewohner sich längst zur Ruhe gelegt hatten. Es war zu spät, um sich in den Ausstellungsraum zu begeben, und so fuhren sie ein Stück abseits auf ein leeres Grundstück, das gerade noch innerhalb der Stadtmauern lag, und richteten sich dort für die Nacht ein, neben einem anderen Wagen, der zwar auf dem Aushängeschild den großen Namen Jarley trug und die Wachsfiguren, die des Landes Stolz waren, von Stadt zu Stadt brachte, aber dessen ungeachtet von einem niedrigdenkenden Stempelamt einfach als „gewöhnlicher Lastwagen“ bezeichnet und sogar nummeriert worden war – Nummer 7565 -, als wäre seine kostbare Fracht weiter nichts als Kohlen oder Mehl! (…)

Der Wagen rumpelte mit höchst unerwünschtem Lärm vorwärts und hielt endlich auf dem Platz, wo die Ausstellung stattfinden sollte; Nelly stieg inmitten einer Gruppe Kinder aus – offenbar hielten sie sie für einen wichtigen Bestandteil der Sehenswürdigkeiten und glaubten fest, dass der Großvater eine täuschend echte Wachsfigur sei. (…)

Alle gingen an die Arbeit, ohne Zeit zu verlieren, und waren sehr rührig. Da die wunderbare Sammlung noch mit Tüchern verhüllt war, damit der neidische Staub nicht den Teint der Gesichter verderbe, bemühte sich Nell, bei der Schmückung des Raumes zu helfen, (…).

Nachdem alle Dekorationen so geschmackvoll wie möglich angebracht waren, wurde die erstaunliche Sammlung enthüllt und auf einer erhöhten Plattform aufgestellt, die etwa zwei Fuß vom Boden rings um den Raum lief; ein rotes Seil in Brusthöhe trennte sie von der derben Masse. Da standen nun allerlei lebensechte Nachbildungen berühmter Leute, einzeln und in Gruppen, in den glitzernden Kleidern verschiedener Zonen und Zeiten; mehr oder weniger unsicher auf ihren Beinen, die Augen weit offen, die Nasenflügel gebläht, mit stark ausgeprägten Arm- und Beinmuskeln, und all diese Gesichter drückten großes Erstaunen aus. Die Herren hatten hochgewölbte Taubenbrüste und waren ganz bläulich um die Bärte; die Damen hatten prächtige Gestalten, und sowohl die Herren wie die Damen blickten eindringlich ins Nichts und starrten mit ungewöhnlichem Ernst nirgendshin.

Als Nells erstes Entzücken über diese prachtvolle Schau gelegt hatte, befahl Mrs. Jarley, dass alle außer ihr selbst den Raum zu verlassen hätten; dann setzte sie sich in die Mitte in einen Armsessel, belehnte Nell in aller Form mit einem Weidenstab, den sie selbst lange gebraucht hatte, wenn sie die Figuren erklärte, und belehrte sie sehr sorgfältig über ihre zukünftigen Pflichten.

„Dies“, sagte Mrs. Jarley mit ihrer Vorführstimme, als Nell eine Gestalt am Rande der Plattform mit ihrem Stab berührte, „ist eine unglückliche Hofdame zur Zeit der Königin Elisabeth, die an einem Nadelstich in den Finger starb, weil sie an einem Sonntag gearbeitet hatte. Man beachte das Blut, das aus ihrem Finger tröpfelt, sowie die Nadel mit dem goldenen Öhr jener Periode, mit der sie arbeitet.“

Dies alles wiederholte Nell mehrmals und wies rechtzeitig auf den Finger und das Nadelöhr, dann gingen sie zur nächsten Figur über.

„Dies, meine Damen und Herren“, sagte Mrs. Jarley, „ist Jasper Packlemerton unseligen Angedenkens, der vierzehn Frauen umwarb und ehelichte und alle vernichtete, indem er ihre Fußsohlen kitzelte, wenn sie im Bewusstsein ihrer Unschuld und Tugend schlummerten. Als man ihn aufs Schafott brachte und befragte, ob er seine Taten bereue, sagte er ja, er bereue, ihnen den Tod so leicht gemacht zu haben, und er hoffe, dass alle christlichen Ehemänner ihm dieses Unrecht vergäben. Seht dies als Warnung an für alle jungen Damen, dass sie es mit dem Charakter ihres Erwählten recht genau nehmen. Man beachte seine Finger, die bei der Tätigkeit des Kitzelns gekrümmt sind, und das verschmitzte Gesicht – so sah er aus, wenn er seine barbarischen Morde vollbrachte.“

Als Nell genau über Mr. Packlemerton Bescheid wusste und alles, ohne zu stocken, aufsagen konnte, ging Mrs. Jarley zu dem dicken, dem dünnen, dem langen und dem kleinen Mann über, sodann zu der alten Dame, die daran gestorben war, dass sie mit hundertzweiunddreißig Jahren noch tanzte, zu dem wilden Knaben aus dem Wald, der Frau, die vierzehn Familien mit ihren eingelegten Walnüssen vergiftete, und zu weiteren ebenso historischen wie interessanten Persönlichkeiten. Und Nell zog so viel Nutzen aus der Belehrung und lernte so schnell, dass sie, nachdem sie ein paar Stunden zusammen eingeschlossen gewesen waren, die Geschichte der ganzen Gesellschaft auswendig konnte und durchaus in der Lage war, die Besucher aufzuklären.

Mrs. Jarley zögerte nicht, ihre Bewunderung für dieses glückliche Ergebnis auszusprechen, und führte ihre junge Freundin und Schülerin herum, um die weiteren Innenarrangements zu betrachten, durch welche die Passage bereits in einen Hain aus grünem Tuch verwandelt war, in dem die Rollen mit den Inschriften hingen, die Nell bereits gesehen hatte (Erzeugnisse von Mr. Slum), und wo ein höchst dekorativer Tisch am oberen Ende aufgestellt war, an dem Mrs. Jarley präsidierte und das Geld einkassierte; in ihrer Gesellschaft befanden sich Seine Majestät Georg III., Mr. Grimaldi als Clown, Maria, Königin von Schottland, ein anonymer Herr in Quäkerkleidung und Mr. Pitt, der in seiner Hand eine genaue Nachbildung des Gesetzes zur Einführung der Fenstersteuer hielt. Auch die Vorbereitungen im Freien vor der Tür waren nicht vernachlässigt worden: eine höchst attraktive Nonne zählte auf dem kleinen Portiko die Perlen ihres Rosenkranzes; ein Brigant mit unglaublich schwarzem Haar und erstaunlich weißer Haut wurde zur gleichen Zeit auf einem zweirädrigen Wagen durch die Stadt gefahren; er betrachtete sinnend die Miniatur einer Dame, die er in der Hand hielt.

Nun waren nur noch die Dichtungen Mr. Slums gerecht zu verteilen; diese dichterischen Ergüsse sollten ihren Weg in alle Privathäuser und alle Läden finden; die Parodie auf den „Esel“ war auf die Schenken zu beschränken und durfte nur nicht bei den Schreibern der Advokaten und den erlesenen Geistern der Stadt zirkulieren. Als auch dies erledigt war und Mrs. Jarley die Schulen persönlich aufgesucht hatte – sie hatte speziell für diese gedruckte Zettel, in denen haarscharf bewiesen wurde, dass die Wachsfigurenschau den Geist verfeinere und die Sphäre menschlichen Verständnisses erweitere -, setzte sich die unermüdliche Dame zum Mittagsmahl nieder und trank aus der verdächtigen Flasche auf ein blühendes Geschäft. (…)

Oft war die Zuhörerschaft recht erlesener Art, und es gehörte eine ganze Anzahl von Mädchenpensionaten dazu, deren Gunst Mrs. Jarley sehr beflissen zu sichern suchte, indem sie das Gesicht und die Tracht von Mr. Grimaldi als Clown so abänderte, dass er Mr. Lindley Murray darstellte, und zwar so, wie er aussah, als er damit beschäftigt war, seine englische Grammatik zu verfassen, und indem sie ferner die berühmte Mörderin in Mrs. Hannah More umwandelte; die Ähnlichkeit der beiden Figuren wurde von Miss Monflathers bestätigt, welche Leiterin des größten Pensionats der Stadt war und sich herbeigelassen hatte, mit acht ausgewählten jungen Damen eine private Vorführung zu besuchen; sie fand die sprechende Ähnlichkeit geradezu aufregend in ihrer Genauigkeit. Maria, die Königin der Schotten, gab mit dunkler Perücke, weißem Hemdkragen und Männerkleidung ein so vollkommenes Bild von Lord Byron ab, dass die jungen Damen geradezu aufschrien, als sie es sahen. Miss Monflathers jedoch dämpfte diesen Enthusiasmus und nahm es zum Anlass, Mrs. Jarley dafür zu rügen, dass sie ihre Sammlung nicht exklusiver hielt, denn Seine Lordschaft vertrat gewisse Meinungen, die mit dem Ehrenkodex einer Wachsfigurenschau schlechterweg unvereinbar waren; sie fügte noch etwas über die hohe Geistlichkeit hinzu, was Mrs. Jarley nicht verstand. (…)

Nell erschrak sehr, als Mrs. Jarley eines Abends beim Heimkommen mitteilte, sie müssten eine Ankündigung vorbereiten, dass die prächtige Schausammlung nunmehr nur noch einen Tag an ihrem derzeitigen Platz verbleibe; dieser schrecklichen Drohung gemäß (denn alle Ankündigungen, die sich mit öffentlichen Vergnügungen befassen, sind, wie wohlbekannt, unwiderruflich einzuhalten) würde die wunderbare Ausstellung am nächsten Tage schließen.

„Verlassen wir dann sofort diese Stadt“ fragte Nell.

„Sieh her, mein Kind“, antwortete Mrs. Jarley, „ich werde dich genau darüber unterrichten.“ Bei diesen Worten zog Mrs. Jarley ein anderes Plakat hervor, auf dem geschrieben stand, dass infolge zahlreicher Nachfragen an der Wachsfigurenkasse und infolge der Enttäuschung des Publikums, das sich vergeblich vor der Tür gedrängt hatte, die Ausstellung um eine Woche verlängert und am nächsten Tage wieder geöffnet sein würde.

„Denn jetzt, da die Schulen nicht hier sind und die regelmäßigen Kunden erschöpft sind, kommen wir zur breiten Masse – und die muss ermuntert werden“, sagte Mrs. Jarley.

Am Mittag des folgenden Tages setzte sich Mrs. Jaley persönlich hinter den prächtig geschmückten Tisch, von den vorerwähnten Bildwerken unterstützt, und ließ die Türen weit öffnen, um das sachkundige und begeisterte Publikum einzulassen. Jedoch die Operationen dieses ersten Tages waren keineswegs erfolgreich, insofern als die „breite Masse“, obwohl sie großes Interesse an Mrs. Jarleys Person zeigte, durchaus nicht geneigt war, sechs Pence Eintrittsgeld pro Kopf zu bezahlen. Und so kam es, dass die Kassenverwaltung nicht reicher wurde und die Aussichten des Unternehmens nicht eben ermutigend waren, obwohl viele Leute den Eingang und die dort aufgestellten Figuren anstarrten, obwohl sie beharrlich dablieben, oft stundenlang, um der Drehorgel zuzuhören und die Plakate zu lesen, und wohlwollend genug waren, ihren Freunden zu empfehlen, sie sollten die Ausstellung gleichermaßen fördern – so dass schließlich der Eingang regelrecht blockiert war durch die halbe Bevölkerung der Stadt, die, wenn sie wieder an ihre Pflichten gehen musste, durch die andere Hälfte abgelöst wurde.

Bei diesem Tiefstand des Bildungsmarktes machte Mrs. Jarley außerordentliche Anstrengungen, um den öffentlichen Geschmack zu reizen und die Neugier der Massen zu steigern. Eine gewisse Maschinerie im Inneren der Nonne, die über der Tür postiert war, wurde geputzt und wieder in Gang gesetzt, so dass die Arme den ganzen Tag mit dem Kopf wackelte – zur größten Bewunderung eines betrunkenen aber sehr protestantischen Barbiers von gegenüber, der besagte paralytische Bewegung betrachtete, sie als typisch für die erniedrigende Wirkung der römischen Kirche auf den menschlichen Geist bezeichnete und sich über dieses Thema mit viel Beredsamkeit und Moral ausführlich erging. Die beiden Fuhrleute gingen ständig im Ausstellungsraum ein und aus, jedes Mal in verschiedener Verkleidung, sprachen sich laut darüber aus, dass diese Schau das Eintrittsgeld eher wert sei als alles, was sie je im Leben gesehen hätten, und beschworen die Umstehenden mit Tränen in den Augen, ein solches Gnadengeschenk nicht zu verschmähen. Mrs. Jarlay saß an der Kasse und klimperte von mittags bis abends mit Silbermünzen und ermahnte die Menge feierlich zu bedenken, dass der Eintritt nur sechs Pence koste und die Abreise der ganzen Schau zu einer kurzen Tournee zu allen gekrönten Häusern Europas tatsächlich für nächste Woche festgesetzt sei.

„Kommt, solange es Zeit ist’ sagte Mrs. Jarlay jedes Mal am Ende ihrer Rede. „Bedenkt, dass dies hier Jarlays herrliche Wachsfigurenschau mit über hundert Figuren ist, die einzige derartige Sammlung der Welt! Alle anderen sind Betrüger und Angeber! Also kommt, solange es Zeit ist, kommt, solange es Zeit ist!“

Charles Dickens: Der Raritätenladen (1841), dt. von Maria von Schweinitz. München 1962, S. 295-367

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